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Rette uns, Heino!

Eine Strategie, wie Deutschland endlich wieder den ESC gewinnen kann

Der »Grand Prix Eurovision de la Chanson« – oder wie man heute sagt »Eurovision Song Contest«, oder wie man es kurz sagt: »ESC« ist eine anachronistische Veranstaltung, die Menschen mit einem Geburtstag nach 1990 vermutlich in eine ähnliche Schublade stecken, wie das »Festival der Volksmusik«.

In Zeiten des öffentlich-rechtlichen Linearfernsehens war der »Grand Prix« eine große Nummer: Einmal im Jahr präsentierte Ralf Siegel der europäischen Zuhörerschaft sein jüngstes Werk. Ihm gleich taten es rund ein Dutzend oder mehr Komponisten mit mehr oder weniger talentierten Interpreten. Das alles wurde im Rahmen einer europaweit ausgestrahlten Live-Sendung präsentiert. Am Ende entschied in jedem teilnehmenden Land eine Jury, welchem Interpreten man einen oder mehrere Punkte für seine Darbietung geben möchte.

Ich selbst erinnere mich an einige »Grand Prix«-Shows, die ich mir als relativ kleines Kind ansehen durfte, weil meine Oma am 16. Mai Geburtstag hatte, und ihre Geburtstagsfeiern sehr oft auf dem Tag ausgetragen wurden, an dem auch der »Grand Prix« lief. Ich saß also vor dem Fernseher und lernte etwas über europäische Kultur, während die erwachsene Verwandtschaft es sich mit Bier und Wein gutgehen und meine Oma hochleben ließ.

Zwischendrin kamen dann immer mal Rückfragen à la: „Waren wir schon dran?“ oder „Wie viele Punkte haben die Österreicher uns gegeben?“

Das war tatsächlich ein Politikum: Geizte ein von uns touristisch erschlossenes Land mit Punkten für uns (bzw. Ralph Siegel), dann führte das nicht selten dazu, dass tausende Piefke, potentielle Touristen aus Germania, dem geizigen Land fern blieben.

Insgesamt war diese Veranstaltung jedenfalls vom Unterhaltungslevel mit dem »Blauen Bock« oder dem »Musikantenstadl« in einer Liga. Ein paar ältere Menschen, die zwischen 1933 und 1945 ihr Bild von einem vereinigten Europa geprägt hatten, sahen es mit Genugtuung, wenn alte Achsen (z.B. Rom – Berlin) wieder funktionierten, und der Italiener es uns gleich tat, und den Jugos auch keine Punkte gab.

Anfang der 1990er Jahre hing mein musikalisches Herz an Punkrock, Grunge und auch ein bißchen an Hip-Hop – sofern man in der norddeutschen Provinz davon etwas mitbekommen hat.
Europäische »Schlager« interessierten mich überhaupt nicht, und so fanden die Wettbewerbe zwischen 1989 und 1998 ohne meine direkte Aufmerksamkeit statt.

1998 trat dann ein Künstler für Deutschland an, der ausnahmsweise mal nicht von Ralph Siegel produziert wurde: »Guildo Horn«.
Der Typ, das Lied und das ganze Drumherum waren so schräg, dass es mir irgendwie gefallen hat. Fortan mischte der Mann hinter Guildo Horn, ein Fleischergeselle aus dem Rheinland namens Stefan Raab, regelmäßig beim »Grand Prix« mit: er trat selbst auf oder produzierte die Interpreten, unter denen einige waren, die es dank des Wettbewerbs zu einer Musikkarriere gebracht haben, oder schon als Stars angetreten sind.

Naja, lierum larum – es folgten ein paar Jahre in denen der ESC hip war und viel Aufmerksamkeit erhielt – gekrönt vom Sieg der Hannoveranerin Lena Meyer-Landrut im Jahr 2010. Ab diesem Moment (Deutschland stand noch unter dem Eindruck des Fussball-Sommermärchens 2006) war der Himmel voller Geigen – oder vielmehr Satelliten – und hierzulande war klar: ab jetzt gewinnen wir immer.

Es kam dann doch anders. Lena versuchte es im Folgejahr ein zweites Mal – mit mäßigem Erfolg. Ab dann ging es bergab. Mit dem Interesse der Zuschauer, mit den Punkten in der Wertung und auch mit der Qualität der deutschen Beiträge.

Jetzt, wo sich das Ergebnis der deutschen Interpreten regelmäßig im einstelligen Punktebereich bewegt, braucht es eine kleine Revolution. Es braucht 2023 einen Beitrag, der nicht versucht sich Mainstream-Trends zu orientieren, oder auf Krampf originell zu sein. Es braucht einen Beitrag, der einerseits unerwartet und andererseits so stereotyp deutsch ist, das alle unsere europäischen Nachbarn ihn allein wegen der Erfüllung dieser unausgesprochenen Erwartungen lieben werden.

Ich meine jetzt nicht die Berliner Party-Kultur mit »Späti«, »Döner« und Biergarten, die es zu einer Art Trend in Paris gebracht hat (ZEIT+, 9. Mai 2022), sondern eher einen Auftritt von Heino, der in Kniebundhose und Sandalen etwas über das erotische Potential junger Försterstöchter zum Besten gibt – oder Till Lindemann, der im selben Outfit etwas über die Farbe von Haselnüssen singt.

»Team Scheiße« for ESC2023

Meine persönliche Empfehlung wäre eine Teilnahme der Band »Team Scheiße«, von deren Existenz ich dank der stets guten Empfehlungen von Olli Schulz auf der »Fidi & Bumis«-Playlist seines mit Jan Böhmermann betriebenen Podcasts »Fest & Flauschig« erfuhr.

Team Scheiße sollte ihren Titel »Karstadtdetektiv« im Rahmen des Wettbewerbs zum Besten geben. Besser könnte man den Bogen gar nicht spannen: Karstadt als anachronistisches Synonym des deutschen Wirtschaftswunders und im Zuge seiner fortschreitenden Auflösung ein wunderbares Bild für den Wandel des Lebens in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Auf der anderen Seite die Suche nach Freunden, die der Karstadtdetektiv durch eigene Pflichtverletzung vorantreiben will – vielleicht finden sich auch hier Parallelen (mir fällt spontan das langjährige, bis zur Selbstaufgabe betriebene Anbiedern an Russland ein…).

Wie dem auch sei: Team Scheiße würde sicher mehr als 6 Punkte holen.

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