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Alltag

Grausame Erfindungen

Unter dieser Überschrift wird jedem irgendetwas furchterregendes einfallen. Zunehmend fallen auch einstige »Errungenschaften der Zivilisation« darunter.

Für mich stellt sich genau zu einer solchen »Errungenschaft« die Frage, ob die Menschheit dadurch einen Nutzen hat, oder ob ein großer Teil unserer Produktivität mittlerweile nur noch zum Selbstzweck dieser »Errungenschaft« vergeudet wird.

Besagte Erfindung ist – je nach Auslegung der verwendeten Technik – rund 50 Jahre alt, in unseren Alltag hat sie allerdings erst Ende der 1990er Jahre gefunden, ganz angekommen ist sie dort seit etwa zwanzig Jahren. Die Rede ist von der E-Mail.

Privat wurde diese Technologie unlängst von Messengern oder Social-Media-Kanälen abgelöst, im Geschäftsleben hat die e-Mail aber einen immensen Stellenwert bekommen. Externe und Interne Kommunikation läuft zu größten Teilen über dieses Medium.

Gefeiert wurde die e-Mail wegen ihrer zweifelsohne guten Eigenschaften: Sie ist schnell, sie ist flexibel, sie kann Dateien transportieren, sie kann gestaltet werden und sie kann an nahezu endlos viele Adressaten simultan versendet werden.

Diese Eigenschaften verhalfen der „Mail“ dazu, dass sie innerhalb der letzten zwei Dekaden alle anderen Kommunikationswege (fast) vollständig abgelöst hat. Dabei kommt den Anwendern ein zunächst als angenehm empfundener Nebeneffekt zugute: Die Kommunikation findet in Textform statt und kann daher auch zu einem späteren Zeitpunkt minutiös nachvollzogen werden. Eine weitere Eigenschaft des verwendeten Software-Protokolls ist die additive Ergänzung des neuen, eigenen Textes zu bereits vorhandenen Texten, wenn man eine Mail beantwortet oder weiterleitet.

Heureka! Sagen diejenigen, die schon immer Sorge hatten, das (am Telefon) gesprochene Wort könne keine Gültigkeit besitzen. Endlich kann man dem zornigen Chef oder dem vergesslichen Kunden in seitenlanger Litanei darlegen, dass einen selbst keine Schuld am Scheitern eines Vorhabens treffe, denn man könne ja schwarz auf weiß darlegen, dass der jeweils andere entsprechendes angeordnet oder bestellt habe.

Vor vielen Jahren wurden Witze über Beamte oder speziell die Bundeswehr gemacht. Die Pointe war dabei stets das Vorhandensein eines Antragsformulars für einen Antrag, den man mit drei Durchschlägen vorzulegen habe. Dieses absurde Verlangen nach Absicherung und Ablage wurde gemeinhin als grotesk empfunden. Heute hingegen kommt es mir so vor, dass das Leben mit »Olympia« auf dem Schreibtisch und den Durchschreibsätzen mit drei Durchschlägen einige Vorzüge gegenüber der Gegenwart hatte.

A pros pos Durchschläge: Ein Relikt dieser Zeit macht uns aktuell das Leben zur Hölle! Fast alle e-Mails, die mir im beruflichen Leben begegnen, haben nicht nur einen Adressaten, stattdessen erhalten diese Mail stets weitere Menschen in »cc«, wobei dieses kryptische »cc« für »carbon copy«, also den guten, alten Durchschlag steht.

So kommt es regelmäßig vor, dass e-Mails, die wohlmeinend ergänzende Informationen zu einem Auftrag transportieren sollen, an einen »Verteiler« adressiert werden, dem dann Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Abteilungen beiwohnen. All diese Menschen sollen diese Information zur Kenntnis nehmen und bestenfalls eine enthaltene Anweisung befolgen.

Tun sie es nicht wird die elektronische Keule ausgepackt und im um die jeweiligen Vorgesetzten erweiterten »Verteiler« die Schuld zugewiesen („…du wusstest doch, dass XY getan werden sollte, ich habe das doch am 21.12. um 17:13 Uhr geschrieben…“).
Auf diese Weise entstehen nahezu täglich Grabenkämpfe zwischen Kollegen, Abteilungen oder schlimmstenfalls zwischen Kunden und Lieferanten.

Jeder wäscht seine Hände in Unschuld, es wurde ja alles geschrieben. Der Konflikt selbst wird auch in Textform ausgetragen – Zwischentöne sind dabei nicht wahrnehmbar, werden aber schlimmstenfalls in das geschriebene hineininterpretiert.
Durch dieses Eskalation habe ich schon mehrfach übelste Konflikte unter Kollegen erleben müssen.

Mittlerweile dominiert die e-Mail in vielen Bereichen den Arbeitsalltag. Selbst Mitarbeiter in Produktion oder Montage erhalten dutzende Mails pro Tag und müssen entsprechend viel Zeit für deren Bearbeitung aufwenden, selbst wenn es dabei nur um das Lesen der Mails geht.

Ich selbst bin vielleicht nicht repräsentativ, da ich aufgrund meiner Aufgabe überdurchschnittlich viele Mails bekomme, aber ich frage mich wirklich, wie man dieser Flut noch Herr werden kann.

Geht man von nur 30 eingehendem Mails pro Tag aus und einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von fünf Minuten ergibt das eine Gesamtzeit von 150 Minuten pro Tag! Bei einer 36-Stunden Woche bedeutet das, dass die Bearbeitung von Mails rund 1/3 der Arbeitszeit ausmacht. Natürlich sind darin auch e-Mail enthalten, die durchaus einen produktiven Charakter haben, deren »herkömmliche« Bearbeitung vielleicht sehr viel mehr Zeit beanspruchen würde, es drängt sich mir aber vermehrt der Eindruck auf, dass eben dieser Faktor Zeit sich auch ins negative wenden kann.

Zu Zeiten des Briefs und auch zuweilen des Fax verging zwischen Versand und Ankunft der Nachricht mehr oder weniger Zeit. Stellte der Sender nach dem Absenden fest, dass ihm ein Irrtum unterlaufen ist, so konnte er durch Intervention auf einem schnelleren Kommunikationsweg den Empfänger über seinen Irrtum in Kenntnis setzen, bevor dieser in Aktion trat.

Wenn ich mir heutzutage anschaue, wie viele Aufträge wir ändern oder stornieren müssen, weil dem Auftraggeber wenige Stunden nach seiner Bestellung ein Fehler aufgefallen ist, oder – auch nicht selten – der Verbraucher oder Bauherr am Ende der Lieferkette seines Zeichens Änderungen nachgereicht hat, so glaube ich, dass das Thema Geschwindigkeit in der Informationsübermittlung das Thema Sorgfalt irgendwo auf der Strecke gelassen hat.

Ich möchte die e-Mail nicht pauschal verteufeln – ohne sie ginge es wahrscheinlich nicht mehr. Ich möchte aber dazu anregen sich sorgfältiger zu überlegen, wem ich wann eine Mail schreibe, wer im »Verteiler« steht und wann ich eine Antwort auf diese Nachricht erwarte bzw. erwarten kann (auch eine Unart: erwarten, dass man 24/7 sofort alle Mails liest und darauf reagiert).

Es gibt in vielen Unternehmen in der Mail-Signatur den Slogan »Think twice before printing« ich würde diesen gern um den Slogan »Think twice before sending« ergänzen.

think twice before printing
(C) gehmx.de

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