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Alltag

Die Sache ist ernst

Seit März 2020 leben wir mit einem Virus, welches sich in Windeseile auf der ganzen Welt ausgebreitet hat. Schnell waren sich Expertinnen überall auf der Welt einig, dass ein nicht unerhebliches Gefahrenpotential von diesem Virus ausgeht. Anfangs war die größte Gefahr wohl das fehlende Wissen und die fehlende Erfahrung im Umgang damit.

Die Politik in den meisten Ländern der Welt reagierte mit Vorsicht und erließ Verordnungen, die das öffentliche Leben weitestgehend zum Erliegen brachten. Die Menschen mussten sich mit Hygiene- und Abstandsgeboten sowie dem Tragen von Gesichtsmasken anfreunden.

Wir lernten beinahe täglich etwas über exponentielles Wachstum, die wellenförmige Ausbreitung der Pandemie und der möglichen Konsequenzen, wenn wir die Wachstumskurve der Ansteckungen nicht zu einem flacheren Verlauf zwingen würden.

Forscherinnen auf der ganzen Welt machten sich daran und untersuchten dieses neuartige Coronavirus, sie suchten Schwachstellen, die man für Medikamente oder Impfstoffe ausnutzen können.
Schon nach relativ kurzer Zeit wurden Erfolge vermeldet, die einsetzende Euphorie wurde aber schnell ausgebremst, denn es gibt nunmal Regeln um Impfstoffe auf den Markt zu bringen.

In diesem Moment setzte eine Teilung unserer Gesellschaft ein. Es gab diejenigen, die lieber gestern als heute eine Impfung haben wollten, ungeachtet der fehlenden Erprobung und Erforschung der Wirkstoffe und es gab die anderen, die der Sache skeptisch gegenüber getreten sind und auf mögliche Risiken hingewiesen haben.

Um ehrlich zu sein: es gab auch noch eine dritte Gruppe, die vielleicht zahlenmäßig sogar die größte gewesen ist, und zu der ich mich zählen würde: Es waren diejenigen, die nicht unter den ersten 100.000 sein wollten, die eines der neuen Vakzine verabreicht bekommen, die aber dennoch Vertrauen in die Prüfmechanismen der weltweiten Gesundheitsbehörden hatten.
Für diese Gruppe gab es Anfang 2021 auch keinen Anlass zu Diskussionen, denn die Wahrscheinlichkeit schnell an eine Impfung zu kommen war äußerst gering. So wurden im Frühjahr 2021 Tag für Tag weltweit hunderttausende Menschen geimpft und die Zuversicht der Menschen wuchs, auch wenn es immer wieder Meldungen über Nebenwirkungen und Komplikationen gab.
Diese Komplikationen wurden schnell publiziert, Forscherinnen und Ärztinnen weltweit tauschten sich über Beobachtungen und Ergebnisse aus und so konnten schnell bestimmte Gruppen ausgemacht werden, die bei dem einen oder anderen Impfstoff unter besonderen Voraussetzungen ein höheres Risiko für Komplikationen haben können. Man reagierte aber besonnen, warnte die Impfwilligen, das medizinische Personal und schloss Risikopatientinnen von Impfungen mit bestimmten Impfstoffen aus.

Für mich wuchs in dieser Zeit das Vertrauen in unser deutsches und das europäische Gesundheitssystem. Es gibt ein engmaschiges Monitoring, wenn Komplikationen auftauchen werden diese sofort publiziert und es wird sofort reagiert – europaweit.

Im Herbst 2021 wurde dann deutlich, dass es mehr Impfstoff als Impfwillige in Deutschland gibt. Es gab eine Gruppe von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen die Impfung ablehnten. Zwangsläufig entstand eine Debatte: auf der einen Seite die Forscherinnen und Expertinnen, die anhand ihrer Berechnungen absehen konnten, dass es einen deutlich größeren Anteil an immunen Menschen braucht, um die nächste Infektionswelle zu brechen. Auf der anderen Seite die Menschen, die noch immer kein Vertrauen in das Vakzin gefunden haben, oder Impfungen generell kritisch gegenüberstehen.

Es deutete sich ein Konflikt an: kollektive Gesundheitsfürsorge vs. individuelle Selbstbestimmung.

Es mehrten sich die öffentlichkeitswirksamen Proteste der Impfskeptiker, der Kritiker eines zu massiven Eingriffs des Staats in die Persönlichkeitsrechte der Einzelnen und der Gegner jedweder Vorsichtsmaßnahmen im Namen des Schutzes vor Covid-19.

Die Proteste wurden politisch und fanden häufig neue, ungeahnte Koalitionen: Impfskeptiker aus dem Milieu von Homöopathie und Anthroposophie traten plötzlich, teils unwissentlich im Einklang mit Neo-Nazis gegen eine drohende Impfpflicht, gegen Kontaktbeschränkungen und gegen eine Einmischung des Staats in ihre individuelle Lebensplanung an.

Die Proteste wurden mehr, sie wurden aggressiver und es gab vereinzelt Aktionen, die sich strafrechtlich zwischen Nötigung und Hochverrat bewegten: Politikerinnen wurden zu Hause von Fackelzügen besucht, Morddrohungen via Internet gegen Politikerinnen, Forscherinnen oder Journalistinnen wurden inflationär ausgesprochen. Es mischten sich auf unheilvolle Weise selbsternannte Querdenker mit Impfgegnern, Wutbürgern, Verschwörungstheoretikern und nicht zuletzt mit Nazis.

Letztere sind die großen Profiteure dieses gesellschaftlichen Dissens. Man muss ihnen neidlos zugestehen, dass sie es in den letzten Jahren geschafft haben, sich aus der Rolle der stumpfen Provokateure zu verabschieden, um sich strategisch sehr breit aufgestellt und unter dem harmlosen Anstrich von Bürgerbewegungen oder vermeintlich bürgerlichen Parteien (vgl. »AfD«) in das Bewusstsein der Menschen zu bringen, ohne dabei sofort ihre eigentliche Ideologie zu offenbaren, da sie dabei zum jetzigen Zeitpunkt noch befürchten müssen, dass eine offene Sympathie zum Nationalsozialismus derzeit (noch) nicht (wieder) gesellschaftsfähig ist.

Es geht nicht mehr um Impfungen oder Corona

Längst entwickelt sich der Protest der »Querdenker« und »Impfgegner« unter dem Deckmantel der vermeintlichen Freiheitsbefürworter zu einem gefährlichen Flächenbrand. Täglich finden irgendwo im Land »Spaziergänge« statt, bei denen Gleichgesinnte unter dem Attribut eines friedlichen Protests gegen »das System« protestieren – und hier kommt dann schon etwas mehr der Wahrheit an die Oberfläche:

Es geht gegen »das System«

Die Crux dieses »Systems« ist das unbedingte Bekenntnis zur Freiheit, auch wenn diese Freiheit von manchen dazu genutzt wird das System selbst infrage zu stellen. Das zeichnet das Wesen einer freiheitlich und demokratisch organisierten Gesellschaft aus. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein nach diesen Maßstäben organisierter Staat. Von daher gehört es dazu, dass alle Organe dieses Staates und alle Bürgerinnen auch Meinungen zu akzeptieren haben, die an den Grundfesten der eigenen Verfassung oder der eigenen Meinung zweifeln. Das ist Meinungsfreiheit!

Die Meinungsfreiheit erlaubt es, die eigene Meinung zu äußern. Sie erlaubt es aber nicht, diese Meinung als Argument zu nutzen, um sich in in eine vermeintliche Opferrolle zu begeben.

Man darf der Meinung sein, dass rote Ampeln die eigene Freiheit beschränken, man darf diese Meinung auch äußern. Man darf jedoch nicht behaupten, man würde unterdrückt, weil man trotzdem durch Gesetze und Verordnungen dazu gehalten ist, an roten Ampeln anzuhalten.

Diese Gesetze und Verordnungen, die uns in vielen Bereichen des Lebens Vorschriften machen sind nicht im Einzelfall diskutabel.
Wesentliches Merkmal unseres politischen Systems ist die Gewaltenteilung, wonach es drei unabhängige Systeme zur Gesetzgebung (leigislative), zur Rechtssprechung (judikative) und zur Umsetzung / Ausführung (exektuive)(1) gibt.

Wer mit einem Gesetz oder einer Verordnung nicht zufrieden ist kann dagegen alle rechtsstaatlichen Mittel heranziehen. Das kann man als Individuum über den Kontakt zu Abgeordneten der Parlamente tun, man kann sich selbst in Parteien engagieren, man kann den Rechtsweg wählen und Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen lassen oder man wählt den Weg über Interessenverbände, Gewerkschaften, Petitionen usw. – die Liste der Möglichkeiten des Protests ist lang (2).

Man kann natürlich auch seiner Unzufriedenheit durch bissige Kommentare im Netz oder durch Teilnahme an »Spaziergängen« oder Protestzügen Ausdruck verleihen. Damit wird man nur niemals das erreichen, was man eigentlich bezwecken will, da diese beiden Wege nicht wirklich konstruktiv sind. Man lässt seinen Frust raus, man demonstriert gemeinsam mit anderen Frustrierten und das schlimmstenfalls noch Seite an Seite mit Demagogen, die diesen Frust dazu benutzen wollen, neue Anhänger zu finden, die auf Basis eines kleinen gemeinsamen Nenners eigentlich ein größeres Ziel verfolgen (Stichworte: System, Umsturz).

Ich habe in den letzten Wochen oft über dieses Thema nachgedacht und dabei einige Aspekte überdacht: Im Herbst gehörte ich zu denen, die sich eine allgemeine Impfpflicht gewünscht haben. Es wäre kollektiv gesehen die einfachste Lösung. Sie hat nur einen Nachteil: sie greift in die Persönlichkeitsrechte der Menschen ein, ohne dabei eine Garantie geben zu können, dass bei einer kollektiven Immunisierung auch tatsächlich die Pandemie beendet wäre. Dieser inhaltliche bzw. rechtliche Konflikt in der Abwägung zwischen kollektivem Interesse und individuellem Recht hat so viel »Zündstoff«, dass man fürchten muss, dass daran unsere Gesellschaft zerbrechen könnte. Dieser Preis wäre zu hoch!

Wir als Gesellschaft müssen also respektieren, dass es eine Minderheit gibt, die eine Impfung kategorisch ablehnt.
Wir werden damit leben können.
Auf der anderen Seite muss aber die Minderheit der Ungeimpften damit leben, dass es eben weiterhin Regelungen geben wird, die ihnen Einschränkungen im Alltag bescheren.
In diesem Zusammenhang sei an das Beispiel mit der roten Ampel erinnert.

Um im Bild zu bleiben: auch an einer roten Ampel gibt es Ausnahmen. Diese Ausnahmen sind aber geregelt und nicht individuell verhandelt. Es gibt den »grünen Pfeil«, der es unter bestimmten Vorsichtsmaßnahmen erlaubt trotz Rotlichts zu fahren, es gibt hoheitliche Sonderrechte (für Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst), die ein Passieren der Ampel erlauben.

So wird es vermutlich auch mit dem Thema Corona-Schutz bzw. Impfung laufen. Es wird Situationen geben, an denen Geimpfte einen grünen Pfeil bekommen und vielleicht wird es auch Situationen geben, in denen Ungeimpfte über die rote Ampel dürfen, weil sie eine hoheitliche Aufgabe erfüllen.

Eines ist sicher: diese Regeln werden sich weiterhin verändern, so wie sich auch das Virus verändern wird. Niemand kann heute sagen, welche Maßnahmen im Herbst angemessen und erforderlich sind.

Abseits aller gesetzlichen Regelungen wird es weiterhin ein großes Spektrum individueller Regeln geben: jeder Mensch geht anders damit um. Es wird weiterhin Menschen geben, die Kontakte meiden, es wird Menschen geben, die im Kontakt zu Ungeimpften eine Gefahr für die eigene Gesundheit sehen und es wird andersherum Ungeimpfte gebe, die im Kontakt zu Geimpften und wenig getesteten Menschen eine Gefahr für die eigene Gesundheit sehen.

Wenn man ehrlich ist, ist das aber auch nichts Neues.
Ich kann nur für mich sprechen, aber ich habe auch schon früher einen Bogen um Menschen gemacht, die akut erkrankt waren oder sich in einem Umfeld bewegt haben, welches sie vielleicht schon zu Überträgern gemacht hat.
Wenn ich weiß, dass meine Verabredung an Grippe erkrankt ist, habe ich die Verabredung abgesagt. Wenn ich gehört habe, dass mein Besuch aus einem Haushalt kommt, in dem andere Haushaltsmitglieder vom Noro-Virus dahingerafft wurden, dann nehme ich mir das Recht heraus, diesen Besuch auszuladen.
Auf der anderen Seite verzichte ich auf Treffen oder Besuche, wenn ich krank bin. Dasselbe gilt für den Antritt der Arbeit – sofern sie nicht im Home-Office stattfindet.
Vielleicht können wir das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Hygiene sowie die rechtzeitige, eigenverantwortliche Quarantäne bei Erkrankung (welche auch immer) als positive Errungenschaften mit aus dieser Pandemie nehmen.

Bleibt gesund und haltet euch von Nazis fern!


Quellen & Recherchemöglichkeiten:
(1): https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltenteilung 
(2): Thema Bürgerbeteiligung in der politischen Willensbildung:
-> https://www.bpb.de/politik/grundfragen/politik-einfach-fuer-alle/
-> https://www.lpb-bw.de/beteiligung

Beitragsbild:
(C) CDC via Pexels.com 

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