Bevor jetzt irgendjemand den Kinderschutzbund anruft oder mich bei der Polizei anzeigt: Sie ist natürlich älter, schließlich wird unsere gemeinsame Tochter dieses Jahr schon 12 Jahre alt.
Warum schreibe ich also, dass sie 15 Jahre alt wird?
Das liegt daran, dass sie heute vor 15 Jahren dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Seitdem feiert sie am 5. Januar ein zweites Mal Geburtstag. Es war eine ganz knappe Sache und von daher ein Grund zum feiern und um darüber zu schreiben.
Zum Jahreswechsel 2008 auf 2009 waren wir beide erkältet, meine Frau hatte es etwas schlimmer erwischt als mich, sie lag mehrere Tage flach.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Januar wachte sie nachts auf, weil sie einen heftigen Krampf im rechten Unterschenkel spürte. Nachdem sie aufgestanden war und das Bein etwas bewegt hatte, legte sich der Schmerz etwas. Wir konnten noch ein paar Stunden schlafen, dann ging es zur Arbeit.
Ich hatte es nicht ganz so weit, arbeitete damals für einen großen Werkzeug- und Befestigungstechnikhersteller im Außendienst und war an diesem Tag nur innerhalb Kiels unterwegs.
Annika arbeitete seit einem halben Jahr für ein Unternehmen in Flensburg und machte sich morgens pflichtbewusst trotz anhaltendem Unwohlsein auf den Weg dorthin.
Gegen Mittag rief mich eine unbekannte Nummer aus Flensburg an: Es war Annikas Chef, der mir berichtete, dass Annika soeben zusammengebrochen sei und man ihr einen Rettungswagen gerufen habe. Ich war schockiert! Am meisten, weil ich mir keinen Reim darauf machen konnte, und als ehemaliger Rettungssanitäter natürlich gern eine (Verdachts-)Diagnose gehört hätte.
Ich beendete meine Tour, versuchte erfolglos Annika auf dem Handy zu erreichen und rief dann im »Diako« in Flensburg an, wo man mir bestätigen konnte, dass sie sich dort in der Notaufnahme befinden würde.
Ich fuhr nach Flensburg.
In der Notaufnahme herrschte Chaos: Schneeregen und Bodenfrost hatten die ganze Region fest im Griff und sorgten für immensen Andrang chirurgischer Notfälle. Ich fand Annika auf einem Flur. Sie machte einen gefassten Eindruck, fast so, als könne ich sie gleich wieder einpacken und mit nach Hause nehmen. Sie erzählte, dass man sie bei der Aufnahme für eine Simulantin hielt und man sich wohl jetzt nur noch überlegen würde, was man in den Arztbrief schreiben solle.
Gottlob hat man wohl dennoch ein bißchen diagnostiziert.
Kurze Zeit nach meinem Erscheinen kam ein Pfleger, der Annika auf der Trage in ein Behandlungszimmer schob. Kaum dort angekommen erschien ein Arzt, der uns eröffnete, dass er ihr jetzt arterielles Blut abnehmen werde, um dem Verdacht einer Lungenarterienembolie nachzugehen.
Der Doktor verlor keine Zeit und war genauso schnell mit der Blutprobe verschwunden, wie er gekommen war.
Knappe zehn Minuten später wurde es dann hektisch: Der Arzt kam in Begleitung einer Krankenschwester und sagte, es ginge jetzt sofort ins CT, anschliessend dann auf die Intensivstation: Der Verdacht der Embolie hat sich bestätigt, es geht jetzt darum den Bolus zu lokalisieren und sofort mit der Thrombolyse zu beginnen.
Ich kann mich tatsächlich nicht mehr genau daran erinnern, was dann war: Ich glaube, dass ich wieder nach Kiel gefahren bin, um Kleidung und Kulturzeug für Annika zu packen. Es kann auch sein, dass ich das schon dabei hatte – dann weiß ich nicht mehr, was ich in den folgenden Stunden getan habe.
Meine Erinnerung setzt ein, als ich im Warte- und Andachtsraum der Intensivstation sitze und ein Arzt zu mir kommt. Er berichtete mir, dass man die Thrombolyse eingeleitet habe und die Situation unter Kontrolle sei. Ich könne jetzt zu Annika, solle mich aber ob ihres Zustands und der ganzen Kabel und Schläuche nicht erschrecken. Das war erstmal eine Ansage, mein selektives Kognitionsvermögen hatte aber nur »die Situation ist unter Kontrolle« verarbeitet – somit hielten sich meine Sorgen in Grenzen.
Ich wurde an Annikas Bett in der »ITS« geführt und wurde mit einem freudigen Lächeln begrüßt. Wir tauschten uns kurz darüber aus, dass ja keiner von uns damit gerechnet hätte, wie ernst das alles werden würde. Der vermeintliche Krampf in der letzten Nacht war wohl der Thrombus im Wadenbein, der sich gelöst hatte.
Parallel zu unserem Gespräch ging die Therapie weiter. Zwei Krankenschwestern und ein Arzt zogen munter Medikamente auf, friemelten an Spritzenpumpen und betrachteten die Werte auf dem »Monitor«. Ständig gab es Alarme und auch mein bescheidenes Wissen aus der Rettungsdienstzeit reichte, um zu sehen, dass der Kreislauf weit weg von »normal« war.
Plötzlich ging es Annika schlecht. Ihr wurde übel und sie musste sich übergeben. Der Arzt sagte, dass es von den Medikamenten kommen würde, es wäre aber besser, wenn ich draußen warten würde. Ich weiß nicht mehr, ob wir uns noch etwas gesagt hatten, ich erinnere mich nur an das Bild: Annika in dem Bett, umgeben von Maschinen und Leuten, die Nierenschale in der Hand und keine Farbe mehr im Gesicht.
Ich wartete eine nicht mehr zu bestimmende Zeit im Warteraum. Auf dem Fenstersims eine Kerze, an der Wand ein Kreuz und Psalme oder Bibelsprüche, die dem Wartenden wohl das Gefühl geben sollten, nicht allein zu sein. Ich war es trotzdem.
Erstmals kamen mir der Gedanke: Was, wenn sie es nicht schafft?
Irgendwann kam der Arzt zu mir und sagte, dass ich nach Hause fahren könne. Annika sei wieder stabil, sie würde schlafen. Mehr könne ich jetzt nicht tun.
Ich fuhr nach Hause und kam in die – wenn man von zwei Katzen und drei Kaninchen absieht – leere Wohnung.
Die Aussage des Arztes und meine Fähigkeit mich an Fakten orientieren zu können, halfen mir in den Schlaf zu finden.
Am nächsten Morgen rief ich auf der ITS in Flensburg an. Ein netter Pfleger bestätigte mir, dass Annika noch bei ihnen sei, und dass »sie mittlerweile auch wieder außer Lebensgefahr sei.«
Schock.
»Lebensgefahr«
Das Wort wirkte nach. In meinem Kopf war wieder das Bild vom Vorabend, gefolgt von jeder Menge anderer Bilder aus unserem gemeinsamen Leben – alles in »fast forward«. Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte.
Ich hatte noch das Telefon am Ohr, der Pfleger hatte sein Telefon mittlerweile zu Annika ans Bett gebracht und ich hörte ihre Stimme, verstand aber nicht, was sie sagte. Mechanisch machte ich das, was sie mir sagte: ich schrieb auf, was ich ihr mitbringen sollte und wen ich informieren sollte.
Gesagt, getan.
Ich fuhr zu ihr nach Flensburg und erledigte aus dem Auto die aufgetragenen Anrufe. In Flensburg angekommen wurde Annika gerade auf die Normal-Station verlegt. Intensivbetten waren knapp und so musste ein Bett auf der »Inneren« reichen, auch wenn sie noch unter permanenter Beobachtung stehen sollte.
Long story short
Wie wir alle wissen ging die Sache gut aus: Es gab neben den geringen Schäden am Herz und den schon deutlicheren Schäden in der Lunge sowie der Thrombose im Bein, Gott sei dank keine weiteren Probleme (ein Schlaganfall wäre nicht auszuschliessen gewesen). Nach nur einer Woche wurde Annika entlassen (auch normale Stationsbetten waren knapp…), um dann wenige Tage später nach einem Kollaps in ihrer Hausarztpraxis ins »Städtische« in Kiel eingewiesen zu werden.
Das war sozusagen ein Heimspiel, denn schließlich hatte Annika dort erst vor fast genau drei Jahren hier ihre Ausbildung zur »Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin« beendet.
Es folgte eine weitere Woche im Krankenhaus in Kiel.
Sie bekam einen guten Tipp, wer nach der Entlassung die Weiterbehandlung übernehmen könne, und so konnte sie dann mit einigen Auflagen entlassen werden.
Durch die Auflage für mindestens ein Jahr Macumar zu nehmen, Thrombosestrümpfe zu tragen und einigem Dingen mehr, sollte es uns in den nächsten Monaten nicht langweilig werden.
Die kieler Ärzte hatten sich zudem auf Ursachenforschung begeben und »Prothrombin-Mutation« festgestellt, was frei übersetzt eine erblich bedingte Neigung zu Thrombosen bedeutete. Diese Eigenschaft in Kombination mit dem Thrombose-Auslöser Nummer eins bei Frauen (hormonelle Verhütung) und dem Bewegungsmangel durch die Erkältung, hat dann zu der Thrombose geführt.
Letztlich dauerte die Macumar-Behandlung zwei Jahre.
Es folgten etliche Arztbesuche, dutzende Paare Thrombosestrümpfe und den einen oder anderen Nervenzusammenbruch, wenn Annika zu x-ten Mal erklären musste, warum bestimmte Behandlungen nicht gehen (z.B. beim Zahnarzt), warum bestimmte Medikamente für sie nicht infrage kommen usw.
Es gab auch mehrfach die Aussage, dass aufgrund der Krankengeschichte und der Gerinnungsstörung eine Schwangerschaft nicht zu verantworten sei. Es gab aber auch andere Meinungen. Wie immer galt: Fragt man drei Ärzte bekommt man vier Meinungen.
Wie dem auch sei: Unsere beiden Kinder sollten Beweis genug sein, dass die Zweifler sich geirrt haben und Annikas Fokus auf eine Lösung uns mal wieder weitergebracht haben.
Heute, fünfzehn Jahre später, wird uns dann einmal mehr bewusst, was es bedeutet hätte, wenn sie es damals nicht geschafft hätte.