Kategorien
Fiktion

Haschkeks-Harakiri

Seit Wochen ging mir schon eine Story für einen Krimi durch den Kopf. Ich habe so etwas noch nie aufgeschrieben und habe mich jetzt mal daran gewagt. Ich freue mich auf Feedback an feedback@1xz.de. Viel Spaß beim Lesen!

Ich konnte den Lauf der Pistole an meiner Schläfe spüren. Ein kühler, metallener Gegenstand, der mit Druck gegen meinen Schädel gepresst wurde. Mein Körper schüttete alle Hormone in höchstmöglicher Dosis gleichzeitig aus, mein Stresslevel war nicht mehr zu steigern.
Als der Pistolenbesitzer seinen Zeigefinger zu krümmen begann musste er parallel auch Kraft auf den Daumen ausüben, dabei ließ der Druck an meiner Schläfe nach. Jetzt würde es nur noch einen Lidschlag brauchen, bis ein 9mm messendes Projektil in meinen Schädel einschlagen würde, und meine Geschichte bereits an dieser Stelle beenden würde.

Das metallische Klicken, das ich vernahm, war aber nicht der Schlagbolzen, der auf die Patrone traf, es war die Falle im Türschloss meiner Schlafzimmertür, die durch Federdruck zurückflog, nachdem „Schlucke“, mein an Adipositas leidender Main-Coone Kater, sich mit seinen knapp 10kg Körpergewicht von der Kommode auf dem Flur auf den Türdrücker gestürzt hatte, um sich einem Überfallkommando gleich Zutritt zu meinem Schlafzimmer zu verschaffen.

Bin ich schon tot? Träume ich das gerade, oder war die Nummer mit der Pistole am Schädel ein Traum?

Die zweite Frage konnte ich, nachdem ich mit beiden Händen meinen Schädel abgetastet habe, mit ja beantworten. Für die Beantwortung der ersten Frage muss ich etwas weiter ausholen, denn seit einem sehr einschneidenden Erlebnis in der letzten Nacht, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass mein Ableben nicht mehr lange auf sich warten lassen wird.

Wo fange ich an?

Eigentlich hatte ich bis gestern ein normales und gechilltes Leben. 

Wenn man Sätze mit „eigentlich“ beginnt, dann meint man aber in der Regel etwas völlig anderes.

Ich bin 42 Jahre alt und gelernter Elektriker. Altgeselle würde man im Handwerk sagen, ich arbeite aber schon seit vielen Jahren nicht mehr im Handwerk, sondern auf Montage. 
Durch diese Tätigkeit habe ich in den letzten 20 Jahren eine Menge gesehen. Ich habe Maschinen in Asien, Süd- und Nordamerika, in Russland und Afrika montiert und in Betrieb genommen. Anfangs waren es Maschinen zur Metallverarbeitung, so genannte Bearbeitungszentren, später habe ich für ein anderes Unternehmen Windkraftanlagen montiert.

Dabei hatte ich dann vor elf Jahren einen schweren Arbeitsunfall, als ich gerade eine Anlage in einem Offshore Windpark in der Nordsee in Betrieb genommen hatte, habe ich einen heftigen Stromschlag erlitten. Bis heute weiß ich nicht, was passiert ist und was ich falsch gemacht habe. Mein großes Glück war damals, dass mein Kollege den Schlag mitbekommen hat und selbst nicht betroffen war. Er hat es geschafft die Anlage stromlos zu schalten und mich zu versorgen, während er über Funk Hilfe herbeirief. Die erste Hilfe kam von unserem Versorgungsschiff, dass unweit der Anlage auf Reede lag. An Bord war ein Defibrillator, den der Erste Offizier mit in die Anlage brachte, mich ohne lange zu zögern damit verkabelte und mir innerhalb kürzester Zeit drei heftige Stromstöße verpasste, die aus einem Kammerflimmern wieder einen Sinusrhythmus in meinem Herzen machte. Anschließend brachte mich der herbeigerufene Rettungshubschrauber in ein Krankenhaus nach Esbjerg in Dänemark.

Ich kenne das alles nur aus Erzählungen, denn wach wurde ich erst knapp eine Woche nach dem Unfall. Ich hatte neben einer elektrolytischen Entgleisung eine Reihe von Verbrennungen, so genannten „Strommarken“, die mich arg zugerichtet hatten. Es brauchte mehrere Monate, bis ich wieder auf den Beinen war und in der Zeit wurde mir klar: Mit dem Scheiß mache ich nicht weiter. Die Berufsgenossenschaft tat alles, um mich wieder auf die Beine zu bringen und so fand ich dann einen neuen Job als Servicemonteur bei einer Firma, die Industrietore herstellt.

Ich bekam einen eigenen Bezirk in der Umgebung meiner niedersächsischen Heimat und hatte einen Bulli mit jeder Menge Werkzeug und Leitern, mit dem ich dann zu „meinen“ Kunden fahren sollte, um Tore zu warten, zu reparieren oder auch mal ein neues Tor zu installieren.

Warum ich so abschweifend erzähle? Sowohl der Unfall, als auch mein derzeitiger Job haben mit dem zu tun, was ich in den letzten 24 Stunden erlebt habe, und was mir diesen üblen Albtraum beschert hat.

Nach dem Unfall hatte ich neben den körperlichen Beschwerden auch eine Reihe seelischer Probleme. Ich hatte plötzlich Angst um mein Leben und litt regelmäßig unter Panikattacken. 

Während der Reha lehnte ich aus einer falsch verstandenen Eitelkeit das Angebot der psychotherapeutischen Unterstützung ab. 
Nach etwa einem Jahr merkte ich dann aber doch, dass ich irgendetwas machen müsste, um diese andauernden Ängste in den Griff zu bekommen. Anstatt zum Arzt zu gehen, fuhr ich nach Groningen.

Dort angekommen ging ich in den Coffeshop „de Medley“ und kaufte mir für 100 € rund 8 Gramm „Anmesia Haze“ und eine Wasserpfeife für 25 €. Ich fuhr zurück nach Hause, stopfte die Pfeife und rauchte ein halbes Gramm initial.  Mein letzter Kontakt mit Cannabis war bestimmt schon zehn Jahre her. Damals habe ich hin und wieder mal mit Freunden auf einer Party gekifft, fand die Wirkung aber im Hinblick auf meinen sonstigen „Party-Stil“ eher hinderlich. Ich hatte außerdem Sorge, dass ich mit Gras erwischt würde und unnötigerweise mit dem Gesetz in Konflikt geraten könnte.

Genau diese damals ungewollte Wirkung setzte jetzt ein. Ich lag auf meiner Couch und schaute fasziniert eine Sendung im Fernsehen, bei denen junge Frauen mit einem definierten Budget durch Boutiquen gescheucht wurden, um am Ende des Tages das ergatterte Outfit bewerten zu lassen. Die Sendung übte eine wahnsinnige Faszination auf mich aus, und ich fieberte mit der 33-jährigen Nicole mit, die neben einem tadellosen Aussehen auch einen einwandfreien Kleidungsstil zeigte. Ich tauschte mich lebhaft mit „Schlucke“ über die gewagte Kombination von Magenta und Braunoliv aus, die Tanja, eine der anderen Teilnehmerinnen versuchen wollte.

Zum Ende der Sendung machte ich ein große Pfanne Rührei und brachte die beiden Becher Vanillepudding aus dem Kühlschrank mit, damit Schlucke und ich die beim eifrigen mitfiebern verlorenen Kalorien wieder aufholen können. Erst, nachdem auch eine weitere Folge dieser mir bis dahin völlig verborgen gebliebenen Sendung vorbei war, setzte so etwas wie ein wacher Moment bei mir ein: Das Gras hat gewirkt! Ich saß innerlich jubelnd neben der Zehnkilo-Katze auf dem Sofa und machte mir klar, dass ich fast zwei Stunden weg war von meinen trüben Gedanken, keinen Moment an irgendeine Angst verschwendet hatte und sozusagen im „hier und jetzt“ war.

Das Gras änderte mein Leben erheblich. 
In den kommenden Wochen qualmte ich jeden Tag nach Feierabend meine „Hookah“, fuhr an jedem Wochenende die gut zwei Stunden nach Holland und musste nach knapp drei Monaten feststellen, dass ich meine Probleme erfolgreich verlagert hatte. Ich versuchte meinen Konsum zu reduzieren und schaffte es nach einigen weiteren Wochen, meinen Konsum auf die Wochenenden zu reduzieren. Zwischenzeitlich hatte im „de Medley“ Tobi kennengelernt, der genau wie ich an jedem Samstagvormittag seinen Wochenendeinkauf dort erledigte.

Wir stellten fest, dass wir nur unweit voneinander wohnen und verabredeten uns fortan samstags, um gemeinschaftlich zum Shoppen ins Nachbarland zu fahren.

Irgendwann haben wir dann auch angefangen gemeinsam zu konsumieren und weil Tobi in seinem Freundeskreis noch ein paar andere Kiffer hatte, saßen wir fortan öfter in einer illustren Runde zusammen und rauchten Gras und manchmal auch exotische Hasch-Sorten.

Über den Zeitraum von fünf Jahren entstand so ein Zirkel von rund einem Dutzend Enddreißiger, die sich mehr oder weniger regelmäßig zum gemeinsamen Kiffen trafen.

Irgendwann haben wir das Ganze dann auch noch mit einem Rahmenprogramm versehen und haben uns am späten Nachmittag in einer Kneipe zum Dartspielen getroffen. Der dortige Clubraum gehörte zum Raucherbereich und Detlev, der Wirt, hatte kein Problem damit, wenn wir dort auch unserem eigentlichen Hobby frönten.

 Als im Jahr 2022 die Legalisierung von Cannabis Einzug in den Koalitionsvertrag der „Ampelregierung“ fand, waren wir hellauf begeistert. Ersten Verlautbarungen zufolge, sollte es neben dem individuellen Privatanbau auch so genannte „Anbauvereinigungen“ geben. Genau diese Form erweckte unser Interesse, und schon bald zeigte sich, was bisher für uns eher sekundär war: in unserem „Dart-Club“ waren die verschiedensten Berufe vertreten. Neben mir als Elektriker gab es einen weiteren Kabel-Akrobaten, einen Zimmermann, eine Dachdeckerin, zwei Maurer, einen Schlosser, mehrere Lehrer, Kaufleute, Juristen, Steuerberater und die Inhaberin eines Pferdekrematoriums. Sozusagen ein Spiegel der Gesellschaft.

Diese Vielfalt machten wir uns zunutze und konnten dank des fundierten Wissens der Juristen und Kaufleute schon bald einen handfesten Plan präsentieren. Wir gründeten eine Anbauvereinigung mit dem klingenden Namen „Cannabis Social Club Aller-Weser“ und verfolgten fortan das politische Geschehen rundum das Legalisierungsvorhaben sehr genau.

Unser Plan sah vor, dass wir eine Immobilie zum Anbau anmieten wollen, um dort auf Grundlage des neuen Gesetzes Cannabis von bester Qualität für unsere Mitglieder zu produzieren. Bei der Akquise einer solchen Immobilie kamen Claudia und mir eine wichtige Rolle zu: Ich komme berufsbedingt viel rum, und sehe dabei jede Menge gewerblicher und auch landwirtschaftlicher Objekte und habe Kontakt zu den Mietern und manchmal auch deren Eigentümern. Claudia ist ihres Zeichens Immobilienmaklerin und hat schlichtweg Ahnung von dem Business, kann den Wert einer Immobilie bewerten und am ehesten einschätzen, ob sie für unsere Zwecke geeignet ist.

Letzten Endes war es aber Kira, die im Herbst 2023 eine passende Immobilie ausfindig gemacht hat. Kira ist Betreiberin eines der wenigen Pferdekrematorien in Deutschland. Sie hatte auf einem landwirtschaftlichen Betrieb den Auftrag, den Kadaver des geliebten Familien-Wallachs „Jumper“ abzuholen. Im Gespräch mit den ehemaligen Besitzern stellte sich heraus, dass sie schon vor dem Ableben des Oldenburger Kaltbluts den Entschluss gefasst hatten, das landwirtschaftliche Anwesen aufzugeben, um in die nahegelegene Kreisstadt zu ziehen. Die Landwirtschaft, einen Hähnchenmastbetrieb, hatten sie bereits vor ein paar Jahren aufgegeben.

Den Hof wollten sie am liebsten verkaufen, aber auch eine Verpachtung käme infrage.

Kira kontaktierte Claudia und schon wenige Tage später begutachtete der Vorstand des CSCAW das Anwesen und befand dieses für geeignet.

Als dann am 23. Februar 2024 das „Cannabisgesetz“ beschlossen hat, legten wir mit vereinten Kräften los: Es galt zunächst die Voraussetzungen zu schaffen. Wir brauchten Mitglieder. Eine Anbauvereinigung darf bis zu 500 Mitglieder haben, um unser Vorhaben wirtschaftlich zu gestalten, brauchten wir zunächst wenigstens 100, so hatte es Tobi als Diplom Betriebswirt und Steuerberater vorgerechnet. Bei 100 Mitgliedern und einem Jahresbeitrag von je 300 Euro würden wir die Jahresmiete für den Hof sowie die damit in Verbindung stehenden Nebenkosten decken können. Wir gingen an die Öffentlichkeit und mussten nach wenigen Tagen eine Warteliste einführen. Unsere Juristen fanden dann einen Weg, wie wir rechtssicher auch mehr als 500 Mitglieder versorgen könnten: durch weitere Vereine, die sich gemeinsam die Infrastruktur teilen würden. Mitte März waren dann vier weitere Vereine gegründet, die gemeinsam die „Anbaugenossenschaft Aller-Weser“ aus der Taufe gehoben haben, deren Zweck der Betrieb des landwirtschaftlichen Anwesens mit den für jeden Verein separierten Anbauflächen war.

Parallel renovierten wir in mehreren Arbeitsgruppen die alten Hähnchenställe, zogen Trennwände für verschiedene Wuchsstadien und zur Trennung der Bestände der verschiedenen Vereine ein. Wir passten die vorhandenen Lüftungsanlagen an, modifizierten die Heizung, installierten eine Photovoltaikanlage auf dem Dach und schufen in einem alten Pferdestall klimatisierte Lagerräume sowie Verarbeitungs- und Verpackungsbereiche.

Das alles ging mit einem Paket an Sicherheitseinrichtungen einher: Ein neuer Zaun, eine Zutrittskontrolle, Alarmanlage und Videoüberwachung zeigten, wie professionell alles aufgezogen wurde. Das Geld für die Umbauten stammte aus den Aufnahmegebühren und einem Teil der Mitgliedsbeiträge. Innerhalb weniger Wochen wurden so rund 150.000 € in den Hof und einige zehntausend Euro in Saatgut investiert.

Wir gingen proaktiv auf die Behörden zu uns gehörten somit zu den ersten Clubs, die eine umfängliche Genehmigung für den Anbau bekommen haben.

Als am 1. April das Gesetz in Kraft getreten ist, legten wir los und pflanzten die ersten Samen ein. Der rechnerische Bedarf unserer 2.500 Mitglieder beläuft sich auf rund 125 kg Gras pro Monat, das wir aus rund 4.000 Pflanzen gewinnen wollen. Von den 2.500 Mitgliedern gab es einen aktiven Kern von rund 30 Personen, die überwiegend aus unserem „Dart-Club“ und ein paar engagierten Enthusiasten bestanden. Wir verbrachten fast jede freie Minute auf dem Hof und kümmerten uns um Aufzucht und Pflege der Pflanzen, Instandhaltung der Anlagen und Überwachung des Objekts. Letzteres wurde uns bewusst, als Michael, seines Zeichens Kriminaloberkommissar und Vorstandsmitglied in einem der Clubs, uns vorrechnete, dass wir bei jeden Monat 4.000 erntereifen Pflanzen in etwa 1,25 Millionen Euro in Gras bevorraten würden. Jeden Monat! Das könnte also Begehrlichkeiten wecken, vor denen wir uns dringend schützen müssten. Aus diesem Grund kannten auch nur die besagten 30 Personen den Hof und seine genaue Adresse. Die Kommunikation mit den Mitgliedern verlief weitestgehend virtuell über das Internet, und die Ausgabe des monatlichen Deputats sollte über Kuriere bzw. an definierten Ausgabestellen erfolgen.

Im Spätsommer war es dann so weit: Unsere erste Ernte. Unser Clubleben wurde von Beginn an mit großem Interesse von den Medien verfolgt, und die Vorstände der Clubs sahen in einer offenen Kommunikation mit den Medien die Chance, unser Vorhaben aus einer linksgrün-versifften Schmuddel-Ecke zu holen. Also durften mehrere Filmteams und einige Journalisten den Hof besichtigen und über die erfolgreiche Ernte (Ausbeute fast 100 kg) und die Weiterverarbeitung im Reinraumstandard berichten.  

Wenige Tage nach den ersten Berichten bekamen wir Besuch auf dem Hof.
Eines Abends standen zwei große, schwarze SUVs vor dem Tor und machten durch Hupen auf sich aufmerksam. Die beiden Vereinsmitglieder, die an diesem Abend Wache hatten, fragten über die Gegensprechanlage, was denn der Grund des Besuchs sei – sie bekamen aber keine Antwort. Die SUV-Fahrer sahen sich um, machten Fotos und fuhren wieder davon.
Anhand der Bilder aus unseren Überwachungskameras konnte Michael dann im Polizeicomputer herausfinden, um wen es sich bei den Besuchern handelt. Es waren der Präsident eines großen Rocker-Clubs, sein Stellvertreter und ein paar Gehilfen.

Die Fahrzeuge waren auf eine Immobiliengesellschaft aus Hannover zugelassen, die sich auf die Vermietung von Apartments an vorwiegend weibliche Dienstleisterinnen aus dem Bereich der sehr körpernahen Dienstleistungen spezialisiert hat.

Die Arbeitsgruppe Recht, und die Arbeitsgruppe Sicherheit hielten ein spontanes Zoom-Meeting ab und kam zu dem Schluss, dass es sich vermutlich um eine Provokation gehandelt haben wird. Denjenigen, die den Dope-Handel bisher beherrscht haben, dürfte die neue DIY-Bewegung nicht gefallen.

Die nächste Woche verlief ohne besondere Vorkommnisse. Wir hatten die erste Ernte mittlerweile getrocknet, sortiert und größtenteils verpackt, in wenigen Tagen sollte sie an unsere Mitglieder ausgeliefert werden.

In der Nacht von Freitag auf Samstag hatte ich mich zur Nachtschicht einteilen lassen und wollte gemeinsam mit Tobi auf unsere Pflanzen und die Ernte aufpassen.

Auf dem Hof gibt es eine Art Leitstand, von dem aus auf unzähligen Monitoren sämtliche Überwachungskameras und Dashboards zu Temperatur, Feuchtigkeit, Zustand der Lüftungsanlage usw. zusammenlief. Dieses Überwachungssystem kann durchaus mit dem konkurrieren, was manch großer Industriebetrieb benutzt, um seine Anlagen und Liegenschaften zu überwachen. Neben der Überwachung unserer Pflanzen dient die Anlage auch der so genannten Perimetersicherheit. Der Zaun, der das gesamte Hofgelände umgibt, sämtliche Türen und Fenster des Hofs und die Kommunikationsleitungen werden permanent überwacht. Im Bereich der Zäune gibt es Lichtschranken, Bodendrucksensoren und Infrarot- sowie Optiksensoren. Nähert man sich dem Zaun von außen sollte der Infrarotsensor anschlagen und einen Hinweis geben. Übersteigt man den Zaun löst der Optiksensor aus und gibt aufgrund der Kombination beider Sensoren einen Alarm. Der Bodendrucksensor dient dann letztlich nur noch der Bestätigung.

Wir trafen uns um 19 Uhr und lösten die Tagschicht ab, machten eine kurze Übergabe und anschließend unseren ersten Rundgang. Keine besonderen Vorkommnisse trugen wir in das Journal ein. Anschließend machten wir uns Tiefkühlpizza im Ofen warm und starteten den Fernseher ohne einen festen Plan, was wir gucken wollen.

Gegen 22.30 Uhr gab es plötzlich einen Alarm: an der östlichen Grundstücksgrenze haben Infrarot- und Optiksensor angeschlagen. Das beunruhigte uns zunächst nicht sonderlich, denn dort verläuft ein Feldweg parallel zum Grundstück und nachts nutzen diesen gelegentlich die Bewohner der umliegenden Dörfer als „Alkoholschnellweg“, also um möglichst unerkannt im angetrunkenen Zustand mit dem Auto nach Hause oder zur nächsten Tränke zu kommen.

Dieses Mal war es anders, denn es gab auch noch einen ausgelösten Bodendrucksensor. Es war also jemand auf dem Gelände!

Wir schauten auf die Kamerabilder und sahen tatsächlich ein dunkles Fahrzeug hinter dem Zaun und eine dunkel gekleidete Person mit Skimaske und Rucksack auf dem Weg zum Hähnchenstall. Für genau diesen Fall gab es auch einen Ablaufplan: Als erstes Licht an! Auf dem gesamten Gelände hatten wir extrem starke LED-Scheinwerfer montiert, die fast jeden Winkel des Hofs taghell erleuchten können. Als zweite Maßnahme galt es über die in die Kameras integrierten Lautsprecher den Eindringling anzusprechen. Die dritte Maßnahme beinhaltete eine Meldung an den Arbeitskreis Sicherheit sowie einen Notruf an die Polizei.

Wir hielten uns an den Plan: Licht an, Ansprache und nichts passierte. Der Eindringling ließ sich nicht beirren, er erreichte den Stall und machte sich an der Tür zu schaffen. Er hatte eine große Brechstange und begann an der Tür zu hebeln. Tobi und ich schauten uns an: Wir müssen etwas tun! Tobi schlug vor, dass er über den Hinterausgang aus dem Hauptgebäude, in dem sich der Leitstand befindet, rund um den Schweinstall, der gegenüber des Hähnchenstalls ist, laufen könne, um den Eindringling dann aus der Deckung und aus sicherer Entfernung zu überraschen.

Ich war über Tobis Mut verwundert, hatte aber keine bessere Idee und ergänzte, dass ich durch den Hähnchenstall in Richtung der Tür laufen werde, an der sich der Kerl zu schaffen machte.

Tobi lief los, ich wählte Michaels Nummer und wartete, dass er sich meldete. Noch während ich ihm kurz die Lage schilderte, sah ich, dass Tobis Rechnung nicht aufgehen würde, denn der Kerl schien bemerkt zu haben, dass überrascht werden sollte und rannte jetzt schnurstracks auf den Schweinestall zu. Anstatt über den Lautsprecher eine Warnung zu geben sagte ich nur „Fuck“ zu Michael und sah auf dem Monitor mit an, wie Tobi in dem Moment, in dem er die Stalltür öffnete, die Brechstange an den Kopf bekam und wie ein nasser Sack zusammenbrach. Michael fragte, was los sein und ich schilderte ihm das Gesehene. Er sagte: „Schnapp dir den Baseballschläger, der neben dem Serverschrank steht! Der sollte eigentlich nur als Gag dienen, jetzt wirst du ihn brauchen! Mach das Licht aus stell dich hinter die Tür zwischen Schweinestall und Haupthaus. Wenn die Tür sich öffnet: Ausholen und mit voller Kraft zuschlagen! Ich setze mich ins Auto und mache mich auf den Weg zu euch. Ich rufe meine Kollegen!“

Mein Puls war auf einem nicht mehr zählbaren Level angekommen, meine Beine fühlten sich wie taub an und ich griff den silbernen Aluminium-Knüppel, verließ den Leitstand und eilte in Richtung Stalltür. Ich stellte mich mit etwa einem Meter Abstand von der Tür genau in die Mitte der Öffnung, im Ausfallschritt von der Tür weg und hielt die Keule mit beiden Händen etwa 90 Grad weg von der Tür. Ich bekam nicht viel Zeit um mir weitere Gedanken zu machen. Ich hörte Schritte vor der Tür, der Drücker ging nach unten und die Tür wurde zunächst zaghaft für einen schmalen Spalt geöffnet. Eine Taschenlampe strahlte durch den Spalt in den Bereich neben der Tür. Als der Eindringling dort keinen Häscher erblickte, wiegte er sich in Sicherheit und riss die Tür weiter auf. Mein Signal! Ich holte aus, vollzog eine halbe Drehung du schmetterte mit voller Wucht den Baseballschläger in Richtung meines Kontrahenten. Der war anscheinend so davon überrascht, dass er keine Gegenwehr zeigte, und die Keule mit voller Wucht gegen den Schädel bekommen hat. Für mich verliefen diese Bruchteile von Sekunden in Ultra-Slowmotion. Der Einschlag des Schlägers am Schädel des Einbrechers verursachte ein Geräusch, das vermutlich eine Komposition aus platzendem Gewebe und splitternden Knochen war. Es war auf jeden Fall ein Volltreffer. Ich griff zum Lichtschalter und schaltete das Licht an. Vor mir lag der schwarz gekleidete Eindringling. Aus der Skimaske lief Blut, vor dem Mund bildete sich ein hellroter Schaum. Der Kerl röchelte und sein Körper fing erst an am Rumpf zu zucken, bevor sich daraus ein Krampfen entwickelte, das den ganzen Körper übermannte.

Ich begriff noch nicht so ganz, was da passiert war. Mir war kotzübel und ich konnte nicht anders, als während ich auf meine Knie fiel meinen Mageninhalt einmal vor mir auszubreiten.

Ich stand im Vierfüßlerstand etwa einen Meter neben dem am Boden liegenden Einbrecher, beugte mich über meine Kotze und stellte dann fest, dass sowohl Röcheln, als auch auch Zucken aufgehört hatten. Ich sah hinüber und begann erneut zu würgen, als mir klar wurde, dass ich den Kerl getötet hatte!

Mir schossen die Tränen aus den Augen und ich erlebte, dass die vorher schon unerträgliche Panik sich noch steigern ließ. Ich griff nach meinem Handy und rief Michael an, konnte aber außer einem undefinierbaren Kauderwelsch, welches von Schluchzen unterbrochen wurde keine klaren Worte finden. Michael hingegen merkte man die Routine des Polizisten an. Er war es dann auch, der etwas ganz entscheidendes fragte: „Wie geht es Tobi?“ Mir entfuhr ein verzweifelter Schrei: Den hatte ich völlig vergessen! Ich stieg über den toten Einbrecher und rannte in Richtung Schweinestall, lief durch die noch geöffnete Tür zum Hof und sah Tobi noch immer am Boden liegen. Ich kniete mich vor ihn und sah seinen blutüberströmten Kopf, nahm meine rechte Hand und hielt diese vor seinen Mund, während ich mit der linken Hand seinen Brustkorb betastete. Aus seinem Mund kam Luft und sein Brustkorb bewegte sich. Er lebt also!

Michael war noch am Telefon und sagte, dass er in ca. 15 Minuten vor Ort sei. Ich solle zum Einbrecher gehen und schauen, wie es um ihn bestellt ist. Wenn er noch lebt solle ich ihn fixieren und ihn nach Waffen durchsuchen, dann solle ich wieder zu Tobi gehen.

Als ich mich aufrichten wollte, hörte ich Tobi sagen: „Alter, was ist hier los? Wo bin ich und warum tut mein Kopf so weh?“ Ich gab ihm einen kurzen Abriss des Geschehenen und sagte dann, dass ich mich um unseren Gast kümmern müsse. Tobi kniete sich hin und ließ sich von mir aufhelfen. Er schwankte, kam aber in den Stand und schaffte es tatsächlich, sich in Richtung Stall zu bewegen. Ich ging schnelleren Schrittes vor und betrachtete den noch immer am Boden liegenden Eindringling. Ich hielt meine Hand vor seinen Mund und tastete auch nach seiner Brust. Das Blut rings um seinen Kopf hatte seine Farbe von Bordeauxrot in ein noch dunkleres, fast schwarzes rot verändert und wirkte eher wie ein zäher Brei, als wie noch vor wenigen Minuten agil und flüssig.

Noch während ich über dem toten Ganoven kniete, kam Tobi durch die Tür und sah das Elend. Wir sahen uns an und uns überkam ein Gedanke: War das der einzige? Wir gingen die wenigen Meter zum Leitstand und schauten auf die Monitore. Außer den geöffneten Türen und der Bewegung in Haupthaus und Schweinestall gab es keine weiteren Meldungen. Wir spulten das Überwachungsvideo zurück und betrachteten die letzten 15 Minuten im Schnelldurchlauf: zwei Schläge aus dem Hinterhalt, aber keine weiteren Eindringlinge.

Bis Michael auf den Hof fuhr saßen wir ungläubig schweigend im Leitstand. 

Michael erzählte uns recht schnell, dass er seine Kollegen noch nicht angerufen habe, da wir die Situation zunächst mal intern bewerten sollten. Aus diesem Grund habe er die Arbeitsgruppen Recht und Sicherheit einbestellt und diese seien bereits auf dem Weg zum Hof.

Tobi fragte mehr ironisch, ob denn auch die Arbeitsgruppe Notfallmedizin unterwegs sei, denn er habe das Gefühl, dass sein Kopf dringend untersucht werden müsste.

Michael hatte auch dafür einen Plan. Sein Bruder ist Chirurg und Notarzt am nahegelegenen Krankenhaus in Verden. Dort werde Michael ihn gleich hinbringen, um sich dort untersuchen und behandeln zu lassen.

Es dauerte noch weitere 20 Minuten, bis der komplette Notfallstab vollzählig war: Svenja ist Staatsanwältin in Oldenburg, Rüdiger ist Strafverteidiger in Bremen, während Dennis ebenfalls Polizist, aber in einer anderen Dienststelle ist. Gemeinsam sahen wir uns die Überwachungsvideos an und hörten uns die Sprachaufzeichnungen dazu an. Wenn wir jetzt den offiziellen Weg gehen würden, also: Notruf, polizeiliche Ermittlungen und dann ein Strafverfahren, dann hätte das einige Nachteile und würde auch das eine oder andere Risiko mit sich bringen. Mein Handeln könnte wohlwollend als Notwehr ausgelegt werden, zugunsten des Einbrechers könnte man aber auch argumentieren, dass ich nicht angemessen gehandelt habe.

Svenja und Rüdiger waren sich einig, dass ich zumindest einen schwierigen Prozess vor mir hätte. Auch Michael würde Probleme bekommen, denn auf der Sprachaufzeichnung war sehr gut seine Anleitung, wie ich den Eindringling zur Strecke bringen sollte zu hören.

Es galt jetzt abzuwägen: sauber bleiben und die Sache durch ein Gericht bewerten lassen und dann mit jeder Konsequenz leben, oder die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen.

Svenja und Michael durchsuchten den Einbrecher. Es war ganz offensichtlich der Stellvertreter des Rocker-Präsidenten, der uns kürzlich schon mal seine Aufwartung gemacht hat. In seinem Rucksack befanden sich Handschellen, Panzer-Tape, schwarze Baumwollbeutel und eine braune, unbeschriftete 50ml-Flasche, wie man sie sonst von Arzneimitteln kennt.

Unter seiner Jacke, in einem Holster trug er eine Glock 19-Pistole, auf der anderen Seite – ebenfalls in einem Holster – trug er ein extrem großes Militärmesser, mit knapp 20 cm Klingenlänge. Michael staunte nicht schlecht und attestierte ihm einen guten Geschmack bei der Wahl seiner Waffen. Eine Glock sei „eine sichere Bank“ und ein „Buckmaster“ sei, wenn man denn gelernt habe damit umzugehen, ein taktisches Werkzeug in allen extremen Lebenslagen. Svenja ergänzte, dass damit wohl klar sei, dass er nicht gekommen sei, um mit uns ein Kaffeekränzchen abzuhalten. Vielmehr wollte er wohl Geiseln nehmen und entweder unsere Ernte mitnehmen, oder Druck ausüben, um andere Entscheidungen zu erpressen.

Auch wenn das alles Punkte waren, die ein Gericht von seiner Schuld überzeugen sollten, hätte ein Verfahren einen weiteren Nachteil: Öffentlichkeit. Wir alle wären mit Klarnamen im Gericht aufgetaucht, auch bei einem Freispruch wüssten die „Kollegen“ des Einbrechers, wer ihren Kollegen auf dem Gewissen hat. Im schlimmsten Fall – und das sei gar nicht so selten, attestierte Rüdiger – müssten zumindest Tobi und am wahrscheinlichsten ich, mit der Rache der Rocker rechnen. Zeugenschutz sei ohne konkrete Bedrohung nicht drin, und oft reicht der erste Anlauf, um die Rache dieser Leute sehr „nachhaltig“ zu gestalten.

Wir brauchten einen Plan. Wir könnten die Situation anders darstellen und unsere Aussagen abstimmen. Laut Svenja und Michael wäre das aber ein erhebliches Risiko, weil einfach zu viele Beteiligte dieselbe Geschichte erzählen müssten, ohne dabei abgesprochen zu wirken, oder sich zu verhaspeln. Die Alternative: Der Rocker bzw. seine Leiche müssen verschwinden!

Leichter gesagt als getan.

Tobi mischte sich ein und fragte in die Runde: Wie könne man denn am besten eine Leiche verschwinden lassen? Wenn man die irgendwo vergräbt, dauert es doch meistens nicht lang, bis irgendein Pilzsammler sie findet. Wenn man sie in einen See wirft, taucht sie wieder auf und er werden doch noch Spuren entdeckt. Was bleibt denn dann noch?

Svenja antwortete recht trocken: „Müllverbrennung, Abdeckerei oder Schlachthof. Du solltest dabei aber möglichst wenig Zeugen haben und das macht es schwierig.“

„Geht auch ein Krematorium?“ fragte Tobi?

„Im Prinzip schon, aber da wird vor dem Verbrennen ja auch noch einmal sehr genau geschaut, wer da in der Kiste liegt“ antwortete Svenja.          

„Auch bei Pferden?“ fragte ich.

Tobi grinste und signalisierte mir, dass es genau sein Gedanke war.

Ich nahm die anderen anwesenden mit in diesen Gedankengang. Wir hatten uns kürzlich darüber amüsiert, dass eines unserer Gründungsmitglieder und Aktivistinnen die Betreiberin eines Pferdekrematoriums ist. Da Rüdiger mit der besagten Inhaberin nicht nur den Spaß an Cannabisprodukten teilt, sondern gemeinsam mit ihr die Schulbank gedrückt hat, bot er sich an, sie vorsichtig zu fragen, ob sie uns aus einer Notlage helfen würde.

Er schrieb ihr eine WhatsApp, ob sie noch wach sei – schließlich war es mittlerweile nach 23 Uhr. Kira antwortete sofort und Rüdiger fragte, ob sie zum Hof kommen könne, es gäbe ein Problem. Sie zögerte, bejahte dann aber.

Gegen 0.30 Uhr stand unser Plan: Ich würde mich komplett 2-lagig in einen Staubschutzanzug zwängen, die Bündchen an Armen und Beinen verklebt und vor dem Gesicht eine Filtermaske würde ich so hoffen, dass möglichst keine Hautschuppen, Speichel- oder Schweißtröpfchen von mir nach außen dringen würden, um damit das Fahrzeug des Toten nicht zu kontaminieren.

Dieses Fahrzeug würde ich dann an den Rand des Truppenübungsplatzes in der Nähe der Autobahnabfahrt Dorfmark bringen, es in eine etwas abgelegene Ecke stellen, Grillanzünder auf alle vier Räder legen und das Auto so möglichst zielsicher zum Vollbrand bringen.

Das iPhone unseres Besuchers befand sich im Flugmodus und anscheinend würde es sich ohne „Face-ID“ nutzen zu müssen wieder aktvieren lassen. Um weiter von uns abzulenken war der Plan, dass ich das Handy am nahegelegenen Rastplatz Dorfmark an irgendeinem LKW befestige und es so eine falsche Fährte legen ließe. Um selbst wieder aus Dorfmark weg zu kommen würde Rüdiger mich mit seinem Golf II begleiten und wieder einsammeln. Das Fahrzeug war deshalb ideal, weil es keinerlei Elektronik besaß und somit auch nicht über eines der modernen Pannenrufsysteme, denen allen gemein ist, dass sie eine SIM-Karte enthalten, anhand derer man schlimmstenfalls den Aufenthaltsort des Fahrzeugs hätte lokalisieren können.

Wir ließen unsere Handys auf dem Hof zurück, präparierten uns und machten uns auf den Weg nach Dorfmark, während Michael sich mit Tobi auf den Weg zum Krankenhaus machte.

Dennis und Kira verpackten gemeinsam mit Svenja den toten Rocker in eine Kunststofffolie, die normalerweise der Abschottung verschiedener Pflanzbereich dienen sollte. Die Folie ist aus Polypropyläen, licht- und wasserundurchlässig und zudem sehr strapazierfähig – also auch ideal als Leichensack geeignet. Weil wir die Auslieferung in den nächsten Tagen beginnen wollten, hatten wir einen recht unscheinbaren Vito Kastenwagen angemietet, der kurzerhand zum Leichenwagen umgewidmet wurde. Dennis folgte damit Kira in ihrem Volvo Geländewagen in Richtung Pferdekrematorium. Sie hatten verabredet, dass Dennis an der letzten Kreuzung vor der Zufahrt wartet, damit Kira im Krematorium die Überwachungskameras abschalten kann, bevor die heikle Fracht angeliefert wird.

Svenja wollte sich derweil als Tatortreinigerin versuchen. Während der Umbauphase hatten wir sämtliche Böden überarbeitet, um eine saubere und staubarme Umgebung zu gewährleisten. Aus diesem Grund haben wir überall dort, wo vorher einfache Beton- bzw. Estrichoberflächen waren, diese mit Epoxidharz beschichten und polieren lassen, so dass wir hier mit einer geschlossenen und sehr glatten Oberfläche zu tun hatten. Svenja nutzte zudem einen Chlorreiniger, von dem wir noch einige Kanister übrig hatten, nachdem wir damit die Stallungen von sämtlichen mikroskopischen Hinterlassenschaften der früheren Bewohner befreit hatten.

Anschließend wurde der Tatort großzügig gekärchert und sämtliche Putzutensilien in der Feuertonne hinter dem Haupthaus mit einer großzügigen Spiritusgabe verbrannt.

Mir war klar, dass ich eine heikle Mission vor mir hatte. Jemand, der in einem Mercedes GLE 63 AMG versucht unauffällig durch die Nacht zu fahren, hat es nicht leicht. Das Auto hat einen 8-Zylinder Motor und eine euphemistisch als „Sportauspuffanlage“ bezeichnete Krachmaschine verbaut. Immerhin gab es einen Schalter, der aus „Höllenkrach“ die vergleichsweise leise Beschallung in der Qualität eines startenden Panzers verwandelte. Glücklicherweise wurden die Scheiben dieser Prollschleuder nachträglich verdunkelt, sogar die vorderen Seiten- und die Windschutzscheibe. Man würde also genau hinschauen müssen, dass in diesem Fahrzeug ein in einen Einwegschutzanzug gekleideter Typ mit Vollgesichtsfiltermase sitzt. Diese Verkleidung könnte bei Passanten, insbesondere aber bei Polizisten für – sagen wir mal – Irritationen sorgen.

Ich verließ den Feldweg neben dem Hof und fuhr über die vorher mit Rüdiger besprochene Strecke quer durch den Landkreis Verden und den Heidekreis. Dabei möglichst auf kleinen Kreis- und Landesstraßen, nicht jedoch auf zu abgelegenen Wegen (dort würde jedes Auto auffallen, dieses aber umso mehr) und auch nicht auf der Bundesstraße (zu große Kontrollwahrscheinlichkeit). Ich konzentrierte mich darauf, mit dem Raketenwagen stets die vorgeschriebene Geschwindigkeit einzuhalten, was sich aufgrund der fast 500 PS als schwierig erweisen sollte. Rüdiger und ich hatte keine Chance miteinander zu kommunizieren. Unser Plan sah vor, dass wir uns an der Raststätte an der Abfahrt Dorfmark treffen, und dann von dort aus gemeinsam wieder zurückfahren würden. 

Nach rund einer Stunde Fahrtzeit traf ich an meinem Zielort ein. Ich fuhr – so unauffällig wie möglich – in Richtung des Truppenübungsplatzes und parkte den Mercedes hinter einer kleinen Tannenschonung. Ich öffnete die Fenster zur Hälfte und verließ das Auto. In dem Augenblick, als ich anfangen wollte die ersten Grillanzünder zu entzünden hörte ich ein Auto auf der Panzerstraße, die einmal um den Truppenübungsplatz führt, auf mich zukommen. Ich versteckte mich hinter dem Auto des Rockers und schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Es war ein grünoliver VW-Bus mit Blaulicht auf dem Dach, auf der Seite stand – trotz Dunkelheit gut lesbar „Military Police – Feldjäger“. 

Mein Adrenalinspiegel ging das x-te Mal am heutigen Tag durch die Decke. Meine Knie wurden weich und ich hätte mir bei jedem My an zusätzlicher Aufregung in die Hose scheißen können.

Ich versuchte mich selbst zu beruhigen: Was können die schon machen? Die schicken dich vom Truppenübungsplatz und dann ist das Thema für sie erledigt. „Ach nein“ dachte ich. Die werden bestimmt fragen, warum ich diesen Overall trage. Wenn sie dann noch sehen, dass ich das Auto mit Grillanzündern drapiert habe, dann würden sie bestimmt die zivile Polizei dazu holen. Und dann? Das Auto wird wahrscheinlich nicht als gestohlen gemeldet sein. Man würde versuchen den Rocker zu kontaktieren. Und dann? 

Ich hatte keine Zeit mehr, mir weitere Gedanken zu machen. Ich hörte weitere Motoren, allerdings aus der anderen Richtung. Der Feldjäger-Bulli beschleunigte und passierte die Stelle, an der ich in den Wald gefahren bin, augenscheinlich ohne Notiz davon zu nehmen. An der etwa 500m entfernten Kreuzung mit der Kreisstraße, die über die Autobahn führt, fuhr ein Konvoi aus mehreren Militär-LKW auf die Panzerstraße. Die Kolonne bog allerdings nach links ab und entfernte sich somit von mir. Ich wartete aufgeregte fünf Minuten und begann dann damit, mein Werk zu vollenden. Ich zündete zunächst den Grillanzünder auf dem rechten, dann auf dem linken Hinterrad an. Im Innenraum hatte ich jeweils unter den Vordersitzen und im vorderen Fußraum weitere Anzünder positioniert, abschließend dann die Anzünder auf den Vorderrädern.

Die ganze Aktion dauerte keine fünf Minuten, diese reichten jedoch dafür, dass die zuerst angezündeten Anzünder bereits dafür gesorgt haben, dass die Flammen auf die Kunststoffinnenverkleidung der Kotflügel übergegriffen haben. Es fing an sichtbar zu lodern und zu qualmen. Jetzt nichts wie los!

Um keine Spuren zu verursachen trug ich noch immer meinen Schutzanzug und die über den Schuhen platzierten Plastikbeutel. Ich rannte raus aus der Schonung zur Panzerstraße, überquerte diese und lief am Rand weiter in Richtung Autobahn. Nach rund 100 Metern stoppte ich, riss mir den Anzug und die Filtermaske vom Leib und stopfte alles in die dafür vorgesehene Mülltüte. Ich lief weiter über die Autobahnbrücke in Richtung Rastplatz. 

Rüdiger empfing mich weit vor dem Rastplatz an der Straße wartend. Ich begrüßte ihn und fragte, warum er nicht auf dem Rastplatz warten würde, damit wir das Handy noch verstecken könnten. Er erwiderte, dass ihm die Kameras eingefallen sind. Er würde sich unser Wiedersehen und die Handy-Verschickung ungern auf Video vorführen lassen. Stattdessen schlug er vor, dass wir auf dem nächsten unbewirtschafteten Parkplatz an der A7 in Richtung Süden halten würden, dort am erstbesten ausländischen LKW das Handy abladen und unseren Plastikmüll in den dortigen Container schmeißen könnten.

Genauso taten wir es. Das Handy landete auf dem Reserverad eine litauischen LKW, die Tüte mit dem Overall in einem riesengroßen, stinkenden Restabfallbehälter. Wir fuhren schweigend und auf dem schnellsten Weg zurück zum Hof. Als wir gegen 4 Uhr dort angekommen sind, fehlte von Kira und Dennis noch jede Spur, während Michael Svenja schon seit über einer Stunde Gesellschaft leistete bzw. ihr beim Löschen der Videoaufnahmen und der Journaleinträge behilflich war. Tobi ist in der Obhut von Michaels Bruder im Krankenhaus geblieben und sollte am kommenden Morgen weiter untersucht werden. Ein erstes CT hatte keine Hinweise auf eine Fraktur oder raumfordernde Prozesse im Schädel ergeben, so dass Tobi vermutlich mit einer Platzwunde und einer ordentlichen Gehirnerschütterung davon kommen wird.

Gegen 5 Uhr kam auch Dennis zurück und berichtete, dass die Einäscherung in vollem Gange sei. Da das Krematorium für die nächsten Wochen voll ausgelastet, und die einzelnen Verbrennungen minutiös durchgetaktet sind, wurde der tote Rocker gemeinsam mit einem Shetland-Pony in den Ofen geschoben. Der Verbrennungsprozess selbst würde mehrere Stunden dauern, Kira würde vor Ort bleiben und darauf achten, dass bei eventuellen Auffälligkeiten keiner ihrer Mitarbeiter misstrauisch wird.

Wir alle lagen uns zum Abschied in den Armen und die meisten fuhren ihrer Wege.

Michael blieb bei mir und wartete auf die Ablösung, die um 7 Uhr den Tagdienst übernehmen wollte. Michael übernahm die Übergabe und erwähnte, dass Tobi auf dem Hof gestürzt sei, nachdem er nach einem Ausfall der Überwachung ein Geräusch gehört habe. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse.

Ich nahm mir einen 5g-Beute Gras aus dem Lager und reichte Michael ebenfalls einen.

Wir verabschiedeten uns mit Umarmung und wünschten uns ein paar Stunden schlaf und verabredeten uns zu einem Austausch am frühen Nachmittag.

Ich fuhr nach Hause, belud meine Hookah mit einer ordentlichen Portion Gras und qualmte sie gierig weg. Anschließend aß ich eine 200g-Tafel „Milka Oreo“ am Stück und trank einen halben Liter „Augustiner Hell“ als Schlummertrunk. Die Mischung wirkte, und ich fiel in einen komatösen Schlaf, der mich bis zu dem Moment festhielt, als Schlucke mich vor meiner Hinrichtung gerettet hat.